Gesetz oder Gnade, wem folgst du?

Johan­nes 5,9b-16: “Es war aber Sab­bat an die­sem Tag. Da spra­chen die Juden zu dem, der geheilt wor­den war: Heu­te ist Sab­bat, es ist dir nicht erlaubt, dein Bett zu tra­gen. Er aber ant­wor­te­te ihnen: Der mich gesund gemacht hat, sprach zu mir: Nimm dein Bett und geh hin! Sie frag­ten ihn: Wer ist der Mensch, der zu dir gesagt hat: Nimm dein Bett und geh hin? Der aber geheilt wor­den war, wuss­te nicht, wer es war; denn Jesus war fort­ge­gan­gen, da so viel Volk an dem Ort war. Danach fand ihn Jesus im Tem­pel und sprach zu ihm: Sie­he, du bist gesund gewor­den; sün­di­ge nicht mehr, dass dir nicht etwas Schlim­me­res wider­fah­re. Der Mensch ging hin und berich­te­te den Juden, es sei Jesus, der ihn gesund gemacht habe. Dar­um ver­folg­ten die Juden Jesus, weil er dies am Sab­bat getan hat­te.”

Die Begeg­nung Jesu mit dem Geheil­ten am Teich Bethes­da ent­fal­tet sich nicht nur als Wun­der­ge­schich­te, son­dern als dra­ma­ti­scher Wen­de­punkt im Johan­nes­evan­ge­li­um. Was mit Hei­lung beginnt, endet in Ver­fol­gung. Der Sab­bat, eigent­lich ein Tag der Ruhe und des Lebens, wird zum Schau­platz reli­giö­ser Kon­fron­ta­ti­on. Inmit­ten der Vor­schrif­ten und der auf­ge­la­de­nen Atmo­sphä­re offen­bart sich Jesus als der­je­ni­ge, der nicht nur heilt, son­dern auch her­aus­for­dert: Er stellt die Fra­ge nach dem Wesen der Sün­de, nach der Frei­heit des Geheil­ten und nach dem Mut zur Wahr­heit. Die­se Ver­se laden uns ein, tie­fer zu bli­cken – auf das Span­nungs­feld zwi­schen Gesetz und Gna­de, zwi­schen reli­giö­ser Ord­nung und gött­li­cher Initia­ti­ve. Wer heilt, stellt infra­ge. Wer auf­rich­tet, wird ange­klagt. Und wer dem Leben dient, wird ver­folgt.

Es war Sab­bat – der Tag der Ruhe, der hei­li­gen Ord­nung, der Unter­bre­chung des All­tags. Doch gera­de an die­sem Tag geschieht das Unge­heu­er­li­che: Ein Mensch wird geheilt, auf­ge­rich­tet, befreit. Und statt Freu­de erhebt sich Ankla­ge. Die reli­giö­se Stim­me spricht nicht vom Wun­der, son­dern vom Ver­stoß. „Es ist dir nicht erlaubt…“ – das Gesetz wird zum Maß­stab, nicht das Leben. Der Geheil­te trägt sein Bett, Zei­chen sei­ner Ver­gan­gen­heit, Sym­bol sei­ner Gene­sung – und wird dafür geta­delt. Was hier auf­bricht, ist ein Kon­flikt zwi­schen Regel und Gna­de, zwi­schen star­rer Ord­nung und leben­di­ger Berüh­rung. Der Sab­bat, gedacht als Raum für Got­tes Nähe, wird zum Ort der Kon­trol­le. Und mit­ten dar­in steht ein Mensch, der eben erst wie­der gehen gelernt hat.

Der Tag der Hei­lung ist ein Sab­bat – und damit mehr als nur ein Wochen­tag. Er ver­weist zurück auf den Anfang, auf die Ruhe Got­tes nach voll­ende­ter Schöp­fung (vgl. 1. Mose 2,2). Die­se ursprüng­li­che Ruhe war Aus­druck gött­li­cher Voll­kom­men­heit, ein Raum des Frie­dens zwi­schen Schöp­fer und Schöp­fung. Doch durch die Sün­de des Men­schen wur­de die­se Ruhe durch­bro­chen (vgl. Johan­nes 5,17). Als Jesus nun am Sab­bat heilt, berührt er nicht nur einen kran­ken Kör­per, son­dern das tiefs­te Wesen des Sab­bats selbst: Er bringt die Ruhe Got­tes zurück in eine zer­ris­se­ne Welt. Doch die reli­giö­sen Füh­rer erken­nen das nicht. Sie hal­ten fest an den äuße­ren Ver­ord­nun­gen, an einem Gesetz, das sie selbst nicht erfül­len, und über­se­hen dabei die leben­di­ge Gegen­wart Got­tes. Sie suchen Ruhe in der Tra­di­ti­on und über­se­hen den, der die wah­re Ruhe bringt.

Auch heu­te kann der Sab­bat zum Prüf­stein wer­den – nicht als Wochen­tag, son­dern als geist­li­ches Prin­zip. Wenn Bibel­treue zur Starr­heit wird, ver­liert sie ihren Atem. Dann wird das Wort nicht mehr leben­dig, son­dern zur Schran­ke. Man­che hal­ten sich an Buch­sta­ben, die sie selbst nicht tra­gen kön­nen, und über­se­hen den, der heilt. Sie ruhen nicht in der Gna­de, son­dern in der Ord­nung. Doch Chris­tus durch­bricht die­se Ord­nung nicht, um sie zu zer­stö­ren, son­dern um sie zu erfül­len – mit Leben, mit Frei­heit, mit Wahr­heit. Die star­re Bibel­treue erkennt oft das Wun­der nicht, weil sie nur auf das Regel­werk schaut. Doch das Evan­ge­li­um ist kein Geset­zes­ka­ta­log, son­dern eine Ein­la­dung zur Begeg­nung. Wer sich dem Wort öff­net, muss sich auch dem Geist öff­nen, der es leben­dig macht.

Sie erken­nen nicht, wie sehr die gött­li­chen Ver­ord­nun­gen sie ver­ur­tei­len – im Gegen­teil: Sie sind stolz dar­auf. Die Gna­de bleibt ihnen fremd, wie allen, die das Gesetz zur Norm für sich und ande­re machen. Wo das Bewusst­sein der eige­nen Unfä­hig­keit fehlt, wird das Herz hart. Statt sich über die Hei­lung eines Men­schen zu freu­en, klam­mern sie sich an Vor­schrif­ten. Der Sab­bat, gedacht als Tag der gött­li­chen Ruhe und Gna­de, wird von ihnen zum Joch gemacht. Sie sehen nicht das Leben, das auf­bricht – sie sehen nur das Gesetz, das ver­letzt scheint. Doch wer den Sab­bat so ver­steht, muss zwangs­läu­fig mit Jesus in Kon­flikt gera­ten. Denn er bringt nicht die Last, son­dern die Frei­heit. Nicht die Ver­ur­tei­lung, son­dern die Hei­lung. Nicht das star­re Gesetz, son­dern die leben­di­ge Gna­de.

Immer wenn Chris­tus am Sab­bat han­delt, ent­blößt Er die mensch­li­chen Deu­tun­gen und Tra­di­tio­nen, die die­sem beson­de­ren Tag auf­er­legt wur­den. Er befreit den Sab­bat von den Schran­ken, die die reli­giö­se Pra­xis ihm auf­er­legt hat – nicht um ihn zu ent­wer­ten, son­dern um uns zu befrei­en. Die vie­len Hei­lun­gen, die gera­de am Sab­bat gesche­hen, sind kein Zufall, son­dern ein tief­grei­fen­des Zei­chen. (Mat­thä­us 12,1–13; Mar­kus 1,21–31; 2,23–28; 3,2–6; Lukas 4,31–37; 6,1–11; 13,10–16; 14,1–6; Johan­nes 5,10; 7,22.23; 9,14–16)

Die­se Zei­chen ver­kün­den, dass die wah­ren Vor­aus­set­zun­gen für die Ein­hal­tung des Sab­bats, inne­re Ruhe, Ver­söh­nung und Gna­de, oft feh­len. Jesus tritt bewusst in die Ord­nung ein, um die Gna­de Got­tes sicht­bar und erfahr­bar zu machen. Sein Han­deln am Sab­bat mar­kiert einen spi­ri­tu­el­len Ein­schnitt: Er stellt das Gesetz, des­sen Herz­stück der Sab­bat gewor­den war, in Fra­ge. Es ist nicht das Gesetz, das ver­wor­fen wird, son­dern die Vor­stel­lung, es kön­ne uns das Leben schen­ken. Der wah­re Sab­bat ist kei­ne blo­ße Regel­be­fol­gung, son­dern die tief­ge­hen­de Begeg­nung mit dem Herrn der Ruhe. In Chris­tus wird der Sab­bat nicht abge­schafft, er wird in sei­ner vol­len Bedeu­tung erfüllt. Und wer dies erkennt, sieht nicht mehr nur einen Tag, son­dern eine Ein­la­dung zur Hei­lung und Erneue­rung.

Der Geheil­te lässt sich nicht ein­schüch­tern. Er beugt sich nicht dem Druck der Geset­zes­leh­rer, son­dern hält sich an das eine Wort, das ihn auf­ge­rich­tet hat: „Nimm dein Bett und geh hin.“ Für ihn ist klar – weil der Herr es gesagt hat, ist es gut. Die­ses Ver­trau­en ist kei­ne Rebel­li­on, son­dern Gehor­sam gegen­über der Stim­me der Gna­de. Es ist die ein­zig ange­mes­se­ne Ant­wort auf gesetz­li­ches Den­ken – das eige­ne wie das frem­de. Der Mann beruft sich nicht auf Argu­men­te, son­dern auf Begeg­nung. Und damit ver­wirft er zugleich die selbst­zu­frie­de­ne Beach­tung des Sab­bats, die sich über das Wun­der erhebt. In sei­ner Ant­wort liegt ein stil­ler Pro­test gegen jene, die sich gegen ihren Mes­si­as stel­len, weil sie das Gesetz höher ach­ten als das Leben. Der Geheil­te erkennt, was die From­men über­se­hen: Die wah­re Auto­ri­tät liegt nicht im Buch­sta­ben, son­dern im leben­di­gen Wort.

Die Reak­ti­on der Juden offen­bart ihre Ver­ach­tung gegen­über dem Herrn. Sie nen­nen Ihn abwer­tend „der Mensch“, obwohl sie sehr wohl wuss­ten, wer Er war – denn Sei­ne Zei­chen in Jeru­sa­lem hat­ten bereits gespro­chen. Doch ihr Herz bleibt ver­schlos­sen. Der Geheil­te hin­ge­gen hat­te dem Herrn bis­her nicht begeg­nen kön­nen – gebun­den an den Ort, kraft­los, war­tend. Und der Herr hat­te sich ihm noch nicht offen­bart, wie Er es bei der sama­ri­ti­schen Frau getan hat­te (Johan­nes 4,26). Doch das ist kein Man­gel, son­dern ein Zei­chen gött­li­cher Zart­heit. Denn mit jedem Men­schen geht Chris­tus anders um. Er drängt sich nicht auf, son­dern begeg­net im Moment der Gna­de. Jeder Weg ist ein­zig­ar­tig, jeder Ruf per­sön­lich. Der Herr han­delt nicht nach Sche­ma, son­dern nach Herz. Und wer Ihm begeg­net, erkennt: Ich bin gemeint – nicht wie die ande­ren, son­dern wie ich bin.

Chris­tus, Sab­bat und die Nach­fol­ge heu­te

Die Sze­ne am Teich Bethes­da ist mehr als ein his­to­ri­sches Ereig­nis – sie ist ein Spie­gel für unser heu­ti­ges Christ­sein. Der Geheil­te steht zwi­schen Gna­de und Gesetz, zwi­schen dem Wort des Herrn und der reli­giö­sen Kon­trol­le. Auch heu­te gibt es Stim­men, die das Leben aus dem Wort Got­tes in enge Rah­men pres­sen, die Nach­fol­ge an Regeln bin­den und Bibel­treue mit Geset­zes­treue ver­wech­seln. Doch wer Chris­tus begeg­net, wird nicht in ein Sys­tem gezwun­gen, son­dern in eine Bezie­hung geru­fen. Fun­da­men­ta­lis­ti­sches Bibel­den­ken sieht oft nur den Buch­sta­ben, nicht den Geist.

Es fragt: „Ist das erlaubt?“ – statt zu erken­nen, dass der Herr selbst gespro­chen hat. Der Geheil­te beruft sich auf das Wort, das ihn heil­te – und das ist auch für uns der Maß­stab. Nicht die selbst­si­che­re Aus­le­gung, nicht die star­re Tra­di­ti­on, son­dern das leben­di­ge Wort, das uns auf­rich­tet. Chris­tus stellt sich dem reli­giö­sen Sys­tem nicht aus Trotz, son­dern weil es dem Men­schen nicht mehr dient. Wer Ihm nach­folgt, wird nicht gesetz­los – aber frei. Frei, das Leben zu sehen, wo ande­re nur Vor­schrift erken­nen. Frei, den Sab­bat als Tag der Gna­de zu fei­ern. Frei, dem Herrn zu glau­ben, auch wenn es Anstoß erregt. Die Nach­fol­ge Chris­ti ist kein Gehor­sam gegen­über einem Regel­werk, son­dern ein Leben aus der Stim­me, die sagt: „Steh auf und geh.“

Bibel­treue im Licht des leben­di­gen Chris­tus

Bibel­treue – ja, unbe­dingt. Doch sie darf nicht zur Geset­zes­re­li­gi­on erstar­ren, die Chris­tus ersetzt. Die Schrift ist kein juris­ti­sches Hand­buch, das Para­gra­phen ver­wal­tet, son­dern ein leben­di­ges Zeug­nis, das zum Herrn hin­führt. Chris­ten sind kei­ne Geset­zes­ver­tre­ter, son­dern Jün­ger – Men­schen, die dem leben­di­gen Wort fol­gen, das heilt, auf­rich­tet und befreit. Wer die Bibel benutzt, um zu rich­ten, statt um zu begeg­nen, hat ihren Sinn ver­fehlt. Jesus selbst macht das deut­lich, indem Er am Sab­bat heilt: Er stellt das Wort nicht gegen das Gesetz, son­dern ins rech­te Ver­hält­nis. Die Schrift wird nicht abge­schwächt, son­dern erfüllt – durch das Leben, das aus ihr spricht. Bibel­treue bedeu­tet nicht, sich an Buch­sta­ben zu klam­mern, son­dern dem Geist zu fol­gen, der durch sie wirkt. Es ist Chris­tus, der Maß­stab bleibt. Und wo Er spricht, wird das Gesetz nicht ent­wer­tet, son­dern durch Gna­de über­bo­ten. Die wah­re Treue zur Bibel zeigt sich nicht im Streit um Vor­schrif­ten, son­dern im Mut zur Nach­fol­ge – in der Bereit­schaft, dem zu glau­ben, der sagt: „Steh auf und geh.“