Gesetz und Evangelium: Unterscheidung und untrennbare Verbindung!

Gesetz und Evan­ge­li­um: Unter­schei­dung und Ein­heit im Licht der Bibel und Luthers Theo­lo­gie

Die Unter­schei­dung zwi­schen Gesetz und Evan­ge­li­um gehört zu den Grund­pfei­lern evan­ge­li­scher Theo­lo­gie. Mar­tin Luther bezeich­ne­te sie als „die höchs­te Kunst in der Chris­ten­heit“. Wer sie nicht kennt, kann nach Luther kaum als Christ erkannt wer­den. Und doch sind Gesetz und Evan­ge­li­um nicht Gegen­sät­ze im Sin­ne einer Tren­nung, son­dern zwei Stim­men des­sel­ben Got­tes, die gemein­sam das Heils­ge­sche­hen offen­ba­ren. Sie sind zu unter­schei­den, aber nicht zu tren­nen.

Das Gesetz – Spie­gel, Zucht­meis­ter, Weg­wei­ser

Das Gesetz Got­tes, wie es in den Zehn Gebo­ten und ande­ren Wei­sun­gen der Schrift begeg­net, offen­bart den Wil­len Got­tes. Es zeigt, was gut und gerecht ist. Zugleich wirkt es wie ein Spie­gel, der dem Men­schen sei­ne Sün­de vor Augen führt: „Denn durch das Gesetz kommt Erkennt­nis der Sün­de.“ (Römer 3,20b) Luther beschreibt das Gesetz als den „Zucht­meis­ter auf Chris­tus“ (vgl. Gala­ter 3,24), der den Men­schen zur Erkennt­nis sei­ner Bedürf­tig­keit führt. Es ist nicht böse, son­dern hei­lig, doch das Gesetz kann nicht ret­ten. Es zeigt, was fehlt, aber gibt nicht, was fehlt. „So ist also das Gesetz hei­lig, und das Gebot ist hei­lig, gerecht und gut.“ (Römer 7,12)

In der refor­ma­to­ri­schen Tra­di­ti­on wird das Gesetz in drei Funk­tio­nen ver­stan­den: als Spie­gel (Erkennt­nis der Sün­de), als Zucht­meis­ter (Hin­füh­rung zu Chris­tus) und als Weg­wei­ser (ethi­sche Ori­en­tie­rung für den Glau­ben­den).

Das Evan­ge­li­um – Zusa­ge, Trost, Leben

Dem Gesetz gegen­über steht das Evan­ge­li­um – die fro­he Bot­schaft von der Gna­de Got­tes in Jesus Chris­tus. Es ist kein Gebot, son­dern eine Ver­hei­ßung. Es for­dert nicht, son­dern schenkt. Es spricht den Men­schen gerecht, nicht auf­grund sei­ner Wer­ke, son­dern allein aus Glau­ben: „Denn aus Gna­de seid ihr geret­tet durch den Glau­ben, und das nicht aus euch: Got­tes Gabe ist es.“ (Ephe­ser 2,8) Luther betont, dass das Evan­ge­li­um nicht im Gesetz ent­hal­ten ist, son­dern ihm gegen­über­steht. Es ist die Stim­me des gnä­di­gen Got­tes, der in Chris­tus den Sün­der annimmt: „Der Gerech­te wird aus Glau­ben leben.“ (Römer 1,17) Das Evan­ge­li­um ist die Ant­wort auf das Gesetz – nicht als des­sen Auf­he­bung, son­dern als des­sen Erfül­lung in Chris­tus. Es ist die Bot­schaft, dass Gott selbst das Gesetz erfüllt hat und dem Men­schen die Gerech­tig­keit Chris­ti schenkt.

Die Unter­schei­dung – Not­wen­dig und heil­sam

Luther weist uns mit Nach­druck dar­auf hin, wie gefähr­lich es ist, Gesetz und Evan­ge­li­um zu ver­men­gen. Wenn wir das Evan­ge­li­um, die­se fro­he Bot­schaft der unver­dien­ten Gna­de, mit For­de­run­gen bela­den, ver­wan­deln wir es in ein stren­ges Gesetz, das uns erdrückt und von der wah­ren Frei­heit, die Chris­tus uns schenkt, ablenkt. In einem sol­chen Ver­wirr­spiel ver­lie­ren wir den kla­ren Blick auf die Gna­de Got­tes, die uns in Jesus Chris­tus offen­bart wird. Wir müs­sen uns dar­an erin­nern, dass das Evan­ge­li­um nicht unser Han­deln for­dert, son­dern uns in der Gna­de Got­tes fes­tigt.

Eben­so warn­te Luther vor der Ver­harm­lo­sung der Sün­de, wenn das Gesetz mit Ver­hei­ßun­gen ver­mischt wird. Der gro­ße Drang, die Sün­de zu rela­ti­vie­ren oder zu igno­rie­ren, ent­springt oft einer Angst vor der Kon­fron­ta­ti­on mit der eige­nen Unvoll­kom­men­heit. Doch der Weg der Gna­de führt nicht über das Ver­ste­cken unse­rer Feh­ler, son­dern über die ehr­li­che Aus­ein­an­der­set­zung mit ihnen. Nur wenn wir die Schwe­re unse­rer Sün­de erken­nen, wird uns die Grö­ße der Gna­de umso kla­rer.

Die­se Unter­schei­dung zwi­schen Gesetz und Evan­ge­li­um ist nicht belang­los, son­dern hat tief­grei­fen­de seel­sor­ger­li­che Kon­se­quen­zen. Sie schützt uns vor einer gesetz­lich gepräg­ten Lebens­wei­se, die unse­ren Glau­ben mit einem uner­reich­ba­ren Maß an Anfor­de­run­gen belas­tet. Doch sie bewahrt uns auch vor der Ver­su­chung, die Gna­de als Frei­fahrt­schein für unser sünd­haf­tes Ver­hal­ten zu miss­ver­ste­hen – eine bil­li­ge Gna­de, die nicht die ver­än­dern­de Kraft Chris­ti in uns aner­kennt.

Wenn wir im Lich­te die­ser Unter­schei­dung leben, führt uns das zu einer tie­fen Buße, die nicht in Ver­zweif­lung endet, son­dern in einer wie­der­her­ge­stell­ten Freu­de. Buße bedeu­tet, unse­re Feh­ler vor Gott zu brin­gen und in Demut zu erken­nen, dass wir allein auf sei­ne Gna­de ange­wie­sen sind. Die­se Gna­de aber ist nicht pas­siv; sie wirkt in uns, ver­än­dert uns, und führt zu einem Leben, das „von der Freu­de des Herrn“ durch­drun­gen ist.

Dar­um ist es unab­ding­bar, dass wir die­se Dif­fe­ren­zie­rung ernst neh­men. Wo es an die­sem Ver­ständ­nis man­gelt, ist die Iden­ti­tät des Chris­ten in Gefahr. Wir sind beru­fen, die Frei­heit zu leben, die uns der Glau­be an Chris­tus gibt, eine Frei­heit, die uns nicht von den Gebo­ten befreit, son­dern uns befä­higt, sie aus Lie­be und Dank­bar­keit zu leben.

Die Ein­heit – Zwei Stim­men, ein Wort

So wich­tig die Unter­schei­dung zwi­schen Gesetz und Evan­ge­li­um ist, so ent­schei­dend ist auch die Erkennt­nis ihrer Ein­heit. Gesetz und Evan­ge­li­um sind nicht zwei Göt­ter, son­dern zwei Wei­sen, wie der eine Gott zu uns spricht. Bei­de die­nen dem Heil und sind Aus­druck sei­ner Lie­be und Gna­de. Das Gesetz berei­tet den Boden, das Evan­ge­li­um bringt die Frucht. Bei­de sind das Wort Got­tes – und bei­de sind not­wen­dig.

„Alle Schrift ist von Gott ein­ge­ge­ben und nüt­ze zur Leh­re, zur Zurecht­wei­sung, zur Bes­se­rung, zur Erzie­hung in der Gerech­tig­keit.“ (2. Timo­theus 3,16) Die­se Wor­te erin­nern uns dar­an, dass die Hei­li­ge Schrift in ihrer Gesamt­heit uns zur Wahr­heit führt. Das Gesetz zeigt uns unser Ver­sa­gen, es offen­bart unse­re Sün­de und bringt uns in die Demut vor Gott. Wir erken­nen, dass wir aus eige­ner Kraft nicht gerecht wer­den kön­nen. Doch in die­ser erns­ten Ein­sicht liegt auch der Weg zur Hoff­nung: Das Evan­ge­li­um.

In Chris­tus begeg­nen sich Gesetz und Evan­ge­li­um. Er ist der Erfül­ler des Geset­zes und der Geber des Evan­ge­li­ums. In ihm wird das Gesetz nicht auf­ge­ho­ben, son­dern erfüllt (vgl. Mat­thä­us 5,17). Dies ist ein zen­tra­ler Punkt unse­rer theo­lo­gi­schen Refle­xi­on. Das Gesetz hat sei­ne Voll­kom­men­heit in der Per­son Jesu gefun­den. Er lebt das Gesetz voll­kom­men und zeigt uns, dass es nicht nur ein Kata­log von Gebo­ten ist, son­dern ein Weg zu einem Leben in Gemein­schaft mit Gott. Und in ihm wird das Evan­ge­li­um Fleisch – leben­di­ge Gna­de. Die­se Gna­de, die uns durch Glau­ben zuteil­wird, ist nicht nur ein abs­trak­tes Kon­zept; sie ist kon­kret und erfahr­bar. Sie trifft uns in unse­rem Elend, in unse­ren Zwei­feln und Ängs­ten. Sie umarmt uns und gibt uns neu­en Mut. Der Apos­tel Pau­lus erin­nert uns, dass wir durch den Glau­ben an Jesus Chris­tus Zugang zur Gna­de haben, in der wir ste­hen: “Durch ihn haben wir auch den Zugang im Glau­ben zu die­ser Gna­de, in der wir ste­hen, und rüh­men uns der Hoff­nung auf die Herr­lich­keit, die Gott geben wird” (Römer 5,2). Somit sind Gesetz und Evan­ge­li­um nicht Gegen­sät­ze, die in unse­rem Ver­ständ­nis neben­ein­an­der ste­hen, son­dern zwei Sei­ten der­sel­ben Mün­ze. Das Gesetz führt uns zur Ein­sicht, wäh­rend das Evan­ge­li­um uns in die Frei­heit des Glau­bens ein­führt. In der Span­nung die­ser bei­den Wirk­lich­kei­ten fin­den wir die Erfül­lung unse­res christ­li­chen Lebens.

Frei­heit in der Gna­de

Die Unter­schei­dung von Gesetz und Evan­ge­li­um ist kein theo­lo­gi­sches Detail, oder eine Neben­sa­che, son­dern der Schlüs­sel zum Ver­ständ­nis der Schrift und des Glau­bens. Sie führt zur Frei­heit: Das Gesetz zeigt, dass wir uns selbst nicht ret­ten kön­nen. Es offen­bart unser Ver­sa­gen, unse­re Unfä­hig­keit, die Hei­lig­keit Got­tes zu errei­chen. Das Evan­ge­li­um, hin­ge­gen, offen­bart die wun­der­ba­re Gna­de Got­tes, die uns in Chris­tus Jesus geschenkt wird. Es zeigt uns, dass Gott uns ret­tet, nicht auf­grund unse­rer Wer­ke, son­dern durch den Glau­ben an das voll­brach­te Werk sei­nes Soh­nes. Bei­de zusam­men füh­ren zur Buße, zum Glau­ben und zur Lie­be.

„So ist nun kei­ne Ver­damm­nis für die, die in Chris­tus Jesus sind.“ (Römer 8,1) Die­se ermu­ti­gen­de Bot­schaft ist die Grund­la­ge unse­rer Hoff­nung – sie erin­nert uns dar­an, dass wir in den Augen Got­tes nicht mehr als Sün­der, son­dern als gelieb­te Kin­der ange­se­hen wer­den. In die­ser Frei­heit lebt der Christ – nicht gesetz­los, son­dern erfüllt vom Geist. Die­se Erfül­lung bringt eine Ver­wand­lung mit sich, die unser gan­zes Wesen durch­dringt und uns zu einem Leben in der Nach­fol­ge Chris­ti ermu­tigt. Es ist wich­tig zu ver­ste­hen, dass die­se Frei­heit nicht dazu führt, dass wir die Geset­ze Got­tes gering schät­zen oder igno­rie­ren. Im Gegen­teil, der Geist Got­tes führt uns dazu, die Gebo­te zu erfül­len, nicht aus Zwang, son­dern aus Lie­be. Wir han­deln nicht, um uns zu ret­ten, son­dern weil wir geret­tet sind. Die Lie­be Chris­ti drängt uns dazu, in Dank­bar­keit und Gehor­sam zu leben.

Las­sen Sie uns also in die­ser Frei­heit wan­deln, die uns gege­ben ist. Las­sen Sie uns die Geset­ze Got­tes nicht als Fes­seln, son­dern als lie­be­vol­le Füh­rer betrach­ten, die uns auf dem Weg des Glau­bens lei­ten. Wir sind dazu beru­fen, ein Leben zu füh­ren, das von der Freu­de an der Erlö­sung und der Kraft des Hei­li­gen Geis­tes geprägt ist. Möge die Erkennt­nis die­ser Wahr­heit in unser Herz ein­drin­gen und uns dazu bewe­gen, mit einem Geist der Demut und des Mutes zu leben, die Glo­rie Got­tes in unse­rer Welt zu ver­kör­pern. In all unse­rem Tun mögen wir die Lie­be und die Gna­de, die uns geschenkt wur­den, wider­spie­geln und ein Licht in die Dun­kel­heit brin­gen.